Die Ärztin von Tsingtau by Spindler Sibylle

Die Ärztin von Tsingtau by Spindler Sibylle

Autor:Spindler, Sibylle [Spindler, Sibylle]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2015-01-13T16:00:00+00:00


Zwei Tage nach dem Maskenball verkündeten Plakate in der ganzen Stadt, dass auf Beschluss des Gouvernements alle Chinesen, die am chinesischen Neujahr nach Hause fahren würden, bei ihrer Rückkehr zehn Tage in Quarantäne verbringen müssten. Andernfalls dürften sie nicht in die Stadt zurückkehren. Die Zufahrtswege zur Stadt wurden durch die Truppe blockiert, zehn Kilometer vor der Stadt wurde in Baracken der Feldartillerie eine Militärquarantänestation eingerichtet.

Die Ankündigung sorgte im Haus Hildebrand wie in allen anderen Haushalten der Stadt für größte Aufregung. Allen Angestellten wurde anlässlich des neuen Jahres in der Regel zwei Wochen Heimaturlaub gewährt. Die Abreise sollte in zwei Tagen sein, und Marie hatte die Reisevorbereitungen und die freudige Anspannung unter den Chinesen überall gespürt.

Auf Bitten von Marie versammelte Wolfgang Hildebrand das Personal im Wohnzimmer. Mit Fritz’ Hilfe versuchte Marie zu erklären, welche tödliche Gefahr im Hinterland lauerte. Sie appellierte an die Vernunft ihrer Hausangestellten, die bisher sichere Stadt nicht zu verlassen. Um ihnen einen Ersatz für die Familienfeiern anzubieten, schlug Marie sogar vor, ein eigenes chinesisches Neujahrsfest in ihrem Hause abzuhalten. Wolfgang Hildebrand schien darüber eine eigene Meinung zu haben, widersprach aber nicht. Alle lauschten mit undurchdringlichen Mienen. Marie war sich nicht sicher, ob sie die Ausmaße der Bedrohung wirklich verstanden. Nachdem ihre Ausführungen beendet waren, herrschte einen Moment lang Schweigen im Raum. Marie sah von einem zum anderen. »Überlegt bitte genau. Es geht um euer Leben.«

Alle standen regungslos vor ihr und mieden ihren Blick.

»Was werdet ihr tun?«

Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf. Alle wollten nach Hause zu ihren Familien fahren. Sogar Yonggang, die sich in den vergangenen Wochen Maries Unterweisungen gegenüber so aufgeschlossen gezeigt hatte, blieb hartnäckig. Mit Tränen in den Augen flehte sie Marie an, sie wie versprochen fahren zu lassen.

Hilfesuchend blickte Marie zu ihrem Vater, doch dieser schwieg. Die Entscheidung war gefallen.



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